Die Suche nach dem olympischen Geist

Von ihm ist ständig die Rede. Man kann ihn nicht ignorieren. Er ist quasi omnipräsent: Der olympische Geist. Ein Phänomen und ein unverzichtbarer Geselle – so es denn ein Mann ist – bei dieser Veranstaltung, dem größten Sportevent der Welt. Er war immer schon da und langweilt sich vermutlich zwischendurch, denn er darf ja normalerweise nur alle zwei Jahre raus aus seinem Versteck (vermutlich ist es eine Flasche). Mal im Sommer, mal im Winter. Immerhin ist das eine nette Abwechslung.

Jetzt also schwirrt er in Tokio herum. Irgendwo zwischen allen Wettkampfstätten treibt er sein Unwesen, gibt seinen Segen oder haut bösartig dazwischen, wenn er schlecht gelaunt ist. Die Suche nach ihm ist nicht einfach, weil er sich nicht an Fahrpläne hält. Aber er ist da, definitiv, nur nicht für alle. Amemiek von Vleuten etwa, die niederländische Radfahrerin, hatte händeringend nach ihm gesucht und war dann doch von allen guten Geistern verlassen, als sie im Ziel jubelte über den Gewinn der Goldmedaille, denn die Freude war nur von kurzer Dauer. Amemiek von Vleuten glaubte nach ihrer Zieleinfahrt, dass sie die Goldmedaille geholt hat. © APA/afp / GREG BAKER

Schnell teilte man ihr nämlich mit, dass die Österreicherin Anna Kiesenhofer schon lange vor ihr über den Zielstrich gefahren war. Das gesamte favorisierte niederländische Team hatte die in der Schweiz lebende Mathematikerin schlicht vergessen und am Anfang eben auch ihren Ausreißversuch nicht beachtet, nicht mal registriert. Geistreich agierte Kiesenhofer, die ansonsten ein ganz normales Leben führt und die man gut und gerne als ambitionierte Hobbyrennfahrerin bezeichnen darf. Training ist nur nach einem Achtstundentag möglich. Es war im Grund nicht möglich, dass sie gewinnt aber das sind sie eben, die großen Überraschungen, die vermutlich dem olympischen Geist ein feinsinniges Lächeln entlocken. 12-jährige Syrerin: „Kämpft für eure Träume“ Dabei muss es nicht immer um Entscheidungen gehen. Einfach dabei sein ist mitunterschon genug und so hat der olympische Geist ganz sicher seine schützende Hand über die Tischtennisspielerin Hend Zaza aus Syrien gehalten. Sie durfte sogar die Fahne Syriens bei der Eröffnungsfeier tragen, als jüngste Teilnehmerin dieser olympischen Spiele. Ihre Auftaktbegegnung gegen die 27 Jahre ältere Liu Jia aus Österreich verlor sie nach 24 Minuten Spielzeit, ihre Aussagen bleiben in Erinnerung. „Ich musste für das hier kämpfen und das ist meine Botschaft an alle, die in derselben Situation sind: Kämpft für eure Träume, bleibt dran, egal welche Schwierigkeiten ihr habt, dann werdet ihr euer Ziel erreichen.“ Das sagt also eine Zwölfjährige, die der Krieg in ihrem Land schnell erwachsen hat werden lassen. Eine normale Kindheit war nie möglich, der Sport hat ihr die Chance gegeben, die Welt zu sehen. Der olympische Geist hat sie mit zarten Händen geführt. Hend Zaza, 12-jährige Hoffnungsträgerin aus Syrien. © APA/afp / ANNE-CHRISTINE POUJOULAT

Hend Zaza ist ein kleiner Star geworden und eine Hoffnung für viele, die in ihrer Heimat kein normales Leben führen können. Zaza wird wieder zurückkehren nach Syrien, einige ihrer Landsleute haben indes eine neue Heimat gefunden wie Wael Shueb, der im Sommer 2015 nach Deutschland kam und der nun auch in Tokio ist, weil er für das Flüchtlingsteam des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) nominiert wurde. Er ist Karatekämpfer und sein Sport wurde für diese Olympischen Spiele neu ins Programm aufgenommen. Kampfgeist gehört zu seinem Leben, verbunden mit einer Botschaft: „Ich versuche meiner Familie Kraft zu geben, in dem ich zeige, was man als Flüchtling erreichen kann“, sagt Shueb, der mittlerweile so gut in Deutschland integriert ist, dass er sogar als Karatetrainer eine Festanstellung hat. Seine Schwester, die ihren Mann im Krieg verloren hat, zieht derzeit mit ihren fünf Kindern im türkisch-syrischen Grenzgebiet umher. Immer dorthin, wo sie glaubt, dass die Kampfhandlungen nicht zu heftig sind. Für Sbueb ist es nicht leicht, das Schicksal seiner Familie auszublenden. Es gelingt, wenn er auf der Matte steht.

In diesem Augenblick spürt man ihn wieder, den olympischen Geist, der sie alle irgendwie beseelt, die sich seit Jahren auf ihren Einsatz im Zeichen der fünf Ringe vorbereitet haben. Viel Zeit, um sich nach Tokio auszuruhen, hat er diesmal freilich nicht. Er muss und wird wohl weiterziehen, wobei er immerhin in Asien bleiben kann. Denn auf Grund der Verschiebung der Sommerspiele von 2020 auf 2021 finden schon in sieben Monaten die Olympischen Winterspiele statt. In Peking. Ob das eine geistreiche Entscheidung war, wird sich zeigen.

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